Die Funktional Analytische Psychotherapie (FAP)

Stellen Sie sich vor, Sie wollen Skifahren lernen. Die erste Trainerin bietet Ihnen an, Sie immer nach Abschluss ihrer Skitouren zu treffen. Sie hört zu, wie es Ihnen bei den Abfahrten ergangen ist, analysiert mit Ihnen mögliche Fehler, nimmt zukünftige Fahrten voraus und erarbeitet mit Ihnen hilfreiche Strategien, wie Sie in Zukunft besser fahren können.

Die zweite Trainerin begleitet Sie bei Ihren Skitouren und fährt auf der Piste neben oder hinter Ihnen. Sie sieht gleich, welche Fehler und Fortschritte Sie machen, gibt Ihnen sofort Rückmeldung, was Sie anders ausprobieren oder besser machen könnten. Sie feuert Sie an und freut sich gemeinsam mit Ihnen, wenn die neuen Strategien Wirkung zeigen.

Die Funktional Analytische Psychotherapie (FAP) entspricht in dieser Analogie der zweiten Trainingsvariante.

FAP ist eine beziehungs-fokussierte, kontextuelle Verhaltenstherapie der „Dritten Welle“, die auf die Unmittelbarkeit der therapeutischen Interaktion im Hier-und-Jetzt fokussiert und Verhalten anhand ihrer Funktionen zu verstehen und zu verändern versucht. Eine FAP-Therapeutin beobachtet möglichst achtsam, wie sich das Verhalten und Erleben, das der Patientin in ihrem Alltag Probleme bereitet, sich – in einer funktional gleichartigen Weise – im Hier-und-Jetzt der Begegnung mit ihrer Therapeutin selbst offenbart („Bewusstheit“). Sie versucht, für die Patientin maßgeschneiderte, emotional und sozial herausfordernde Situationen in der Sitzung selbst zu evozieren, damit die Patientin vor Ort ihre habituelle Vermeidung oder sonst wenig effektives Verhalten überwinden, aus ihrer Komfortzone treten und neues Verhalten ausprobieren kann („Mut“). Dabei bemüht sich die Therapeutin, eine möglichst authentische und emotional nahe therapeutische Beziehung mit ihrer Patientin zu entwickeln, um sukzessive Annäherungen an einem adaptiveren Beziehungsverhalten durch ihre „natürliche“ Reaktionen zu verstärken, etwa durch ehrliche und zugleich hilfreich formulierte und sinnvoll platzierte Rückmeldungen (“therapeutische Liebe”).

FAP wurde von Robert Kohlenberg und Mavis Tsai in den 1980er-Jahren entwickelt. Bei der Reflexion von Videobändern zu Therapiesitzungen stellten sie damals einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Qualität der therapeutischen Beziehung und der Wirksamkeit von herkömmlichen Verhaltenstherapien fest. Sie analysierten diese besonders effektiven Therapien mit Mitteln der klinischen Verhaltensanalyse und konstatierten, dass die besonderen therapeutischen Effekte signifikant mit den unmittelbaren, selektiven („kontingenten“) und natürlichen Verstärkungen der Therapeutin zusammenhingen. Daraus entwickelten sie ein therapeutisches Modell, das auf wissenschaftlich bewährte, behaviorale Prinzipien fußt und eine spezifische Art der Gestaltung der therapeutischen Beziehung anhand von fünf Regeln empfiehlt.

  1. Achte auf klinisch relevantes Verhalten in der Therapiesitzung!
    „Bewusstheit“; Prozessbeobachtung
  2. Rufe klinisch relevantes Verhalten in der Sitzung hervor!
    „Mut“; Problemaktualisierung
  3. Verstärke Verhaltensfortschritte natürlich!
    „Therapeutische Liebe“; kontingente und natürliche Verstärkung
  4. Beobachte die Wirkung des Therapeutenverhaltens!
    „Bewusstheit“; interpersonelle Achtsamkeit
  5. Biete funktionale Interpretationen und Strategien zur Generalisierung an!

Diese fünf „Regeln“ sollen Orientierung bieten hinsichtlich eines generell effektiven Vorgehens und zugleich Raum für eine individuelle und kreative Ausgestaltung der Therapie lassen. FAP ist ein ideographischer Ansatz: Die Therapeutin verwendet ihr natürliches Selbst als Werkzeug und das Fallkonzept wird anhand der spezifischen Probleme, Ressourcen, Werte und Zielen der Patientin individualisiert, um ihr zu helfen, in der von ihr selbst gewählten Richtung zu wachsen. Zur „Ideographie“ gehört auch die funktional-analytische Haltung:  FAP-Therapeuten erachten nicht so sehr die äußere Form des Verhaltens (Diagnosen, Symptome) als relevant für ihr Vorgehen, sondern vielmehr dessen Funktion. Ziel ist es, breite “Verhaltensklassen”, die der äußeren Erscheinung nach sich sehr unterscheiden können, in ihrer funktionalen Gleichartigkeit (wie etwa „emotionale Vermeidung“) zu erkennen und zu modifizieren. Statt eines manualisierten „one-size-fits-all“-Vorgehens versuchen FAP-Therapeuten also, eine eigene maßgeschneiderte Therapie für jede Patientin zu erschaffen.

Die therapeutische Beziehung ist eine Realbeziehung und nicht ein bloßes Produkt von „Übertragung“. „Real“ bedeutet hier, dass die Therapiebeziehung die gleichen Reaktionen hervorruft wie „alltägliche“ Beziehungen. Das Therapiesetting ist ein interpersoneller Kontext, der Risiken, Selbstoffenbarungen, Vertrauen, Ehrlichkeit etc. verlangt. Es enthält also die wesentlichen Stimuli assoziiert mit sozialer Bestrafung, Zurückweisung, Nähe / Intimität, Fürsorge etc.. Die therapeutische Beziehung ist deshalb im besonderen Maße geeignet, eine Konfrontation mit den eigenen sozialen Grenzen sowie der eigenen Verletzlichkeit zu fördern und verschiedene Beziehungsfähigkeiten zu nähren und zu formen. Und wenn die therapeutische Beziehung funktional gleichartig zu den Alltagsbeziehungen ist, dann kann neues Verhalten, das im Kontext der therapeutischen Beziehung entsteht, auch zurück auf die Alltagsbeziehungen generalisieren. FAP-Therapeuten werden deshalb angehalten, diese „funktionale Gleichartigkeit“ zu bedeutsamen Beziehungen zu fördern, indem sie wie auch in anderen nahen Beziehungen ihre Gefühle und Gedanken ausdrücken, sich authentisch zeigen und interpersonelle Risiken eingehen. Die Therapie ist keine bloße Kostümprobe für das Leben; hier findet wirkliches Leben statt.

FAP ist ein transdiagnostischer Ansatz und eignet sich besonders für Patienten, bei denen Defizite in der Beziehungsgestaltung bzw. im Bereich der sozialen Kompetenzen zur Entstehung und Aufrechterhaltung ihrer Symptomatik beitragen. Zu den Beziehungsfertigkeiten, die in FAP gefördert werden, zählen u.a. selektive Offenheit und emotionale Nähe, die Regulierung von Nähe und Distanz, emotionaler Ausdruck, Konfliktmanagement, das Abgleichen und Balancieren zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen, das Bieten und Empfangen von Rückmeldungen und Kritik sowie die Fähigkeit zu sozialer Diskrimination und dem Erkennen von Beziehungsdynamiken.

Obgleich FAP ein eigenständiger Ansatz darstellt, können die Prinzipien von FAP auch von Therapeuten anderer Verfahren als integrative Erweiterung verwendet werden, um die Intensität und Wirksamkeit ihrer eigenen therapeutischen Interaktionen zu erhöhen, indem der Fokus auf die Gegenwart der Therapiebeziehung und die Funktionalität des Verhaltens gelenkt wird. Interpersonelle Probleme sind ein wesentlicher Fokus der allermeisten Therapien und somit eignet sich FAP entsprechend häufig als „Add-on“ zu anderen Therapieformen.  Besonders eignet sich die Integration von FAP mit ACT, da beide auf eine gemeinsame zugrundeliegende Philosophie basieren: der Funktionale Kontextualismus, eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Radikalen Behaviorismus von B.F. Skinner.

Deutschsprachige Literatur

Schneider, N. (2010). Beziehung – Bewusstheit – Behaviorismus: Die Funktional Analytische Psychotherapie (FAP). Zeitschrift für Rational-Emotive & Kognitive Verhaltenstherapie, 21, 53-90.

Englischsprachige Literatur

Tsai M, Kohlenberg RJ, Kanter JW, Kohlenberg B, Follette WC, Callaghan GM. A Guide to Functional Analytic Psychotherapy. Awareness, Courage, Love, and Behaviorism. New York: Springer 2009

Holman G, Kanter JW, Tsai M, Kohlenberg RJ. Functional Analytic Psychotherapy made simple. A Practical Guide to Therapeutic Relationships. Oakland CA: New Harbinger 2017