Der Funktionale Kontextualismus und die wissenschaftliche Psychologie
Vorhersagen-und-Beeinflussen (predict-and-influence): Wie überprüfen wir, ob wir uns unseren Zielen annähern, ob unsere Ziele ihren Zweck erfüllen und was sind die Kriterien für die Wirksamkeit dieser Zwecke?
Steven Hayes hat das Ziel von psychologischen Wissenschaftlern mit einer funktional-kontextualistischen Perspektive so umschrieben: „Die Entwicklung eines (organisierten) Systems von evidenzbasierten Regeln und Phänomenen, die es erlauben, Ereignisse vorherzusagen-und-zu-beeinflussen mit Weite, Genauigkeit und Tiefe (scope, precision und depth)“ (Biglan/Hayes, 2016, pp.41)
Der Begriff Beeinflussung ersetzt den Begriff Kontrolle. Es geht um Wirksamkeit, nicht um Ausschließung. Außerdem hat der Begriff der Beeinflussung den Vorteil, die „Generativität des Kontextes“ (Wilson) zu berücksichtigen. Ein Kontext kann sich mit jeder therapeutischen oder alltäglichen Situation verändern und anders vernetzen. Auch ist jeder kontextuelle Faktor selbst wiederum kontextuell bedingt. Ob Nahrungsaufnahme beispielsweise verstärkend wirkt, hängt selbst wiederum vom physiologischen Kontext des möglicherweise Hungernden ab.
Es geht um Vorhersage-und-Beeinflussung. Durch die Hinzunahme der Beeinflussung als zweites, verändert sich der Charakter der Vorhersage. Beide bedingen sich gegenseitig. Um ein Ereignis zielorientiert beeinflussen zu können, muss ich die Bedingungen seines Auftretens, d.h. seinen Kontext kennen. Wenn ich den Kontext kenne, kann ich vorhersagen (prognostizieren, vorerkennen). Wenn ich andererseits ein Ereignis vorhersage, es also in seinen kontextuellen Bedingungen beschreibe, dann verändere ich es bereits. Das abhängige Verhalten wird durch die Beschreibung in seiner Funktion zugleich bestimmt und beeinflusst.
Ein gutes Beispiel dafür sind Achtsamkeitsübungen, die dazu dienen können, die kontextuelle Sensibilität des Verhaltens zu erhöhen. Einen Angstklienten nach den zeitlichen Antezedenzen und Konsequenzen seiner Angstsymptome zu fragen („Und was genau passiert, bevor Sie das Herzrasen wahrnehmen?“) kann zur Folge haben, dass er darauf aufmerksam wird, wie er während des Herzrasens vor sich hinschaut und den Atem anhält.
Weite, Genauigkeit und Tiefe (scope, precision und depth): Ziel ist eine Analyse, die vorhersagt und beeinflusst mit scope, precision und depth. Was heißt das? Scope bedeutet: Ein weites Spektrum von Ereignissen wird analysierbar (umfangreich, übergreifend). Precision meint: Eine begrenzte Zahl von Konstruktionen ist auf eine begrenzte Zahl von Ereignissen anwendbar, es gibt abgrenzbare Kriterien zur Analyse der Ereignisse, so dass sie nur für eine abgrenzbare Zahl zugänglich ist (spezifisch, qualifizierend). Depth schließlich beinhaltet: Analytische Konstruktionen auf psychologischem Niveau gehen strukturell konform mit solchen anderer Wissenschaften (strukturgleich, methodologisch äquivalent). Strukturell gleiche Begriffe in den Evolutionswissenschaften sind etwa umfängliche Erweiterungen durch Artenvariation (scope), Präzisierung funktional erfolgreicher Merkmale oder Verhaltensweisen durch Selektion (precision) und Beibehalten (Retention) dieser Veränderungen auf einer funktionalen Ebene (depth).
Analytisch-abstraktes Herangehen: Das analytische Herangehen des FK ist abstrahierend. Aufgabe des analytisch-abstrakten Herangehens des FK ist es, Handlungen-im-Kontext zu beobachten, zu beschreiben und zu benennen, so dass kontextuelle Muster deutlich werden können, auf die die Kriterien einer funktionalen Zielanalyse anwendbar sind.
Metapher dieser Art des Herangehens ist der Ingenieur, der sich im Gegensatz zum wahrheitsorientierten Wissenschaftler am kontextuellen Unterschied, der einen Unterschied macht, orientiert, und der anders als der von trial and error geleitete Praktiker von einer wirksamkeitsgeleiteten Prognose ausgeht. Der Ingenieur lässt sich von einem – selbst einer funktionalen Analyse unterliegenden – Inventar von Prinzipien leiten, die fortlaufend in der kontextuellen Unterscheidung neu- und umgebildet sowie zugeordnet werden.
Das Ziel der Analyse ist Wirksamkeit. Diese ist erreicht, wenn Vorhersage-und-Beeinflussung von Ereignissen sich darauf beziehen, dass kontextuelle Merkmale identifiziert werden können, die Verhalten-im-Kontext vorhersagbar und beeinflussbar werden lassen. Eine genaue funktionale Analyse erlaubt die Beschreibung eines überschaubaren Umfangs von Ereignissen in der Zukunft. Sie soll zeigen, dass diese Ereignisse mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit und mit einer möglichst genau bestimmbaren Konsequenz auftreten.