Funktionaler Kontextualismus (FK)

Eine philosophische Haltung: Der FK ist eine Philosophie, genauer gesagt: Eine philosophische Haltung, nämlich die, bereit zu sein, das, was ist, so anzunehmen, wie es ist, und mit ihm so umzugehen, dass es neue und wirksame Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnet. So gesehen bezeichnet der FK das Ende der Philosophie, weil es ihm nicht mehr um das Erkennen der Welt und ihrer Grundlagen geht.

Andere philosophische Konzepte (z.B. der Mechanizismus und der Formismus) nehmen dagegen ganz bestimmte Perspektiven ein, um zu erkennen, woraus die innere und äußere Welt besteht, wie sie aufgebaut ist, wodurch und wie sie funktioniert und auf welche Art sie zum Gegenstand der Wissenschaft und Philosophie selbst gemacht werden kann. Die in unserem Alltagsumgang geläufige Idee, dass etwa ein Stein etwas an sich Seiendes ist, unabhängig davon, ob ich ihn wahrnehme, ihn benennen kann oder nicht, ist beispielsweise Teil eines formistischen Umgangs mit der Welt.

Was hat das mit Psychologie, Therapie und meinem Alltag zu tun? Erst einmal nichts, da ich den Stein anfassen, werfen, halten oder anschauen und befühlen kann, ohne sein „Wesen“ erörtern zu müssen – oder zu wollen. So what? Die Antwort darauf ist, dass der FK ein gewisses Etwas hat, was nicht nur unsere Köpfe, sondern auch unsere Hände und Herzen berühren kann.

Was ist es dann, was den FK zu etwas werden lässt, dass nicht nur unser Denken, sondern auch unser Handeln und Fühlen wirksam beeinflussen kann? Es ist seine Leichtigkeit, die auf allen Ebenen unseres Erlebens erfahren werden kann. Eine Leichtigkeit im Denken, weil wir all die Fragen nach dem “Warum” hinter uns lassen können; aber auch eine Leichtigkeit im Wahrnehmen, Fühlen und Handeln, weil wir uns nicht mehr fragen müssen, was genau es ist, was wir wahrnehmen, ob wir wahrnehmen oder interpretieren, wir ein Gefühl sind oder haben, ob wir handeln sollten oder nicht, unser Handeln gut genug geplant ist und ob wir das Ziel unserer Handlungen auch wirklich erreicht haben.

Zentrale Begriffe

Ein Verhalten findet in einem bestimmten Kontext statt und hat eine bestimmte Funktion. Eine Begrüßung wie das Heben der Hand kann beim Annähern an eine andere bekannte Person stattfinden. Ich kann die gleiche Funktion der Begrüßung aber auch auf eine andere Weise erfüllen, beispielsweise indem ich dem anderen die Hand gebe. Oder ich kann das gleiche Verhalten des Hebens der Hand ausführen, aber in einem anderen Kontext, nämlich wenn ich um Hilfe für einen Notfall nachsuchen will. Was heißt das? Das gleiche Verhalten kann in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlichen Funktionen dienen und unterschiedliches Verhalten kann im gleichen oder ähnlichen Kontext die gleiche Funktion erfüllen.

Von einem Verhalten zu sprechen macht also nur Sinn, wenn wir es unter den Aspekten von Funktion und Kontext betrachten.

Äußerlich unterschiedliche Verhaltensweisen können die gleiche Funktion haben, z.B. schreien, wegrennen, singen, tief durchatmen, verdrängen können Versuche sein, die eigene Angst zu mindern oder weniger erlebbar zu machen. In diesem Fall sprechen wir von einer Funktionalen Klasse.

Umgekehrt können spezifische Verhaltensweisen auch unterschiedliche Funktionen haben: z.B. kann Singen der Gemeinsamkeit mit anderen dienen, dem Geldverdienen, der Angstreduktion, der Übermittlung von Informationen etc.

Es wird im FK zwischen der Topographie (der äußeren Erscheinung) und der Funktion eines Verhaltens unterschieden. Dabei fokussiert der FK  auf die Funktion des Verhaltens und vernachlässigt weitgehend topographische Unterschiede.

Da Verhalten sich nur in der Zusammenschau von Funktion und Kontext sinnvoll betrachten lässt, ist die zentrale Analyseeinheit des FK die Handlung-im-Kontext. Verhalten erhält seine Bedeutung nicht durch das, was es „ist“, sondern durch das, wozu es dient und mit wem es wie, wo, wann, wodurch, als was etc. auftritt.

‚An sich‘ hat Verhalten keine Bedeutung, erst als Tätigkeit, die in einem gegebenen Moment in einer bestimmten Situation vor einem bestimmten historischen Hintergrund auf etwas zielt, entwickelt sie ihre Bedeutung aus den vielen Möglichkeiten, wie sie stattfinden kann.

FK und Wahrheit: Was ist wahr?

Auch wenn Handlungen-im-Kontext erfolgen, können sie auf analytischem Wege unendlich unterteilt oder kombiniert werden.

Es gibt keine Letzteinheiten und keine Letzttotalitäten. Beispielsweise kann die obige Begrüßungshandlung Teil einer größeren Ganzheit, eines Treffens etwa, sein, welches selbst wiederum Teil des ganzheitlichen Handlungskontextes einer Versammlung sein kann. Jedes Mal, wenn ein Ganzes zu einem neuen Teil eines anderen Ganzen wird, verändert es seine Qualität. Eine Begrüßung von zwei Bekannten bedeutet etwas anders als eine Begrüßung von zwei (einander bekannten) Teilnehmern eines Treffens und die Begrüßung zweier Teilnehmer eines Treffens wiederum hat eine andere Qualität, als wenn sich die gleichen zwei Leute im Rahmen einer Versammlung begrüße. Die Ziele verändern sich. Damit ändert sich die Bedeutung und das, was an diesen Handlungen „wahr“ (im Sinne von handlungsleitend) genannt werden kann.

Der Pragmatismus und der FK haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass es keine wesenhafte, übergreifend analysierbare Wahrheit von inneren oder äußeren Ereignissen gibt. “Wahrheit” gibt es immer nur im Kontext einer bestimmten Geschichte und Situation und in Bezug auf die Ziele, die erreicht werden sollen. Etwas ist dann „wahr“, wenn es den konkreten Zweck im jeweiligen Kontext erfüllt. “Wahrheit” meint hier eben nicht das vom Subjekt unabhängige Existieren von etwas, sondern eine Weltsicht, die dem Subjekt Orientierung in der Welt erlaubt.

Es handelt sich um Erlebensweisen (experiences) in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Funktionen. Nach der „Wahrheit“ wird erst dann gefragt, wenn es darum geht, wozu dieses Erlebensweisen dienen soll.

Die Fragen nach einer unabhängig existierenden Wirklichkeit sind für den FK (in wissenschaftlicher Nachfolge des Pragmatismus) unwichtig, weil sie sich mit Ereignissen so beschäftigen, als wären sie vergangen. Diese Art der wissenschaftlichen Analyse erfolgt immer nachträglich. Der klassische historische Empirismus gleicht dem Pavlowschen Hund, der beim Klang der Glocke zu speicheln beginnt. Er speichelt nicht, weil er Hundefutter in der Zukunft erwartet, sondern er speichelt, weil Hundefutter beim Klang der Glocke in der Vergangenheit gekommen ist. Das heißt: Die empirische wissenschaftliche Analyse zieht aus vergangenen abgeschlossenen Ereignissen Schlussfolgerungen für die Gegenwart.

Die Perspektive der Möglichkeit

Der FK stellt diese Ereignisse und Schlussfolgerungen nicht in Frage. Er hinterfragt die Art, wie diese Ereignisse gewonnen werden. Deshalb bringt er eine andere Perspektive in die Analyse ein, nämlich die Perspektive der Zukunft, genauer eigentlich die Perspektive der Möglichkeit. Diese Möglichkeit verschaffen wir Menschen uns durch Vergegenwärtigung. Zwar können wir die Zukunft nicht wissen, aber wir können sie konstruieren. Das machen wir ununterbrochen, wenn wir über uns mit anderen sprechen, über unsere Möglichkeiten und unsere Annahmen über uns selbst und andere. Und auch wenn wir über unsere Vergangenheit sprechen. Denn dann reden wir über sie als mögliche Art, wie wir sein können. Mittels Sprache holen wir als Menschen im Gegensatz zu den Tieren vergangene und zukünftige Ereignisse in die Gegenwart. Vergangenheit ist gegenwärtig als erinnerte, Zukunft als vorhergesagte.

Wie also muss eine empirische wissenschaftliche Analyse verfahren, um die Ereignisse nicht als abgeschlossen (precedent), sondern als gegenwärtig (consequent) zu behandeln? Wie kann eine wissenschaftliche Untersuchung Ereignisse als Möglichkeiten analysieren? Indem der Blick auf die Ereignisse selbst radikal verändert wird. Sie werden pragmatisch als Abläufe (Prozesse) verstanden; also weniger von dem her, was sie sind, als mehr auf das hin, was sie werden. Sie werden als Wirkungen, d.h. Konsequenzen analysiert.

Statt ´was ist, was war, was wird sein`, wird im FK gefragt: “Wofür ist das, was ist, wichtig?”, “Wie wirkt sich das, was war, jetzt hier aus?”, „Woran können wir jetzt schon merken, dass das, was sein wird, im Werden ist?”. Es geht also um Ziele und Zwecke sowie um Wirksamkeit (workability).

Ein Problem gewinnt erst dann Bedeutung, wenn es wichtig wird. Es wird nicht einfach wichtig, weil es als Problem formuliert ist. Sondern es wird wichtig, wenn es eine Richtung bekommt, d.h. auf ein Ziel hin ausgerichtet wird. Dadurch wird das Problem in einen Ziel- oder Lösungskontext gestellt. Es ist nicht länger ein willkürliches Ereignis, was stört, sondern ein Ereignis, das in seinem Stören eine bestimmte Funktion erfüllt. Wenn eine Antwort auf eine Frage oder ein Problem keinen wirklichen (i.S.v. Wirkung) Unterschied macht, kann die Frage oder das Problem als bedeutungslos erachtet werden. Brecht hat es Herrn Keuner so formulieren lassen, als dieser gefragt wird, ob es einen Gott gebe: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen“

Der Funktionale Kontextualismus und die wissenschaftliche Psychologie

Vorhersagen-und-Beeinflussen (predict-and-influence): Wie überprüfen wir, ob wir uns unseren Zielen annähern, ob unsere Ziele ihren Zweck erfüllen und was sind die Kriterien für die Wirksamkeit dieser Zwecke?

Steven Hayes hat das Ziel von psychologischen Wissenschaftlern mit einer funktional-kontextualistischen Perspektive so umschrieben: „Die Entwicklung eines (organisierten) Systems von evidenzbasierten Regeln und Phänomenen, die es erlauben, Ereignisse vorherzusagen-und-zu-beeinflussen mit Weite, Genauigkeit und Tiefe (scope, precision und depth)“ (Biglan/Hayes, 2016, pp.41)

Der Begriff Beeinflussung ersetzt den Begriff Kontrolle. Es geht um Wirksamkeit, nicht um Ausschließung. Außerdem hat der Begriff der Beeinflussung den Vorteil, die „Generativität des Kontextes“ (Wilson) zu berücksichtigen. Ein Kontext kann sich mit jeder therapeutischen oder alltäglichen Situation verändern und anders vernetzen. Auch ist jeder kontextuelle Faktor selbst wiederum kontextuell bedingt. Ob Nahrungsaufnahme beispielsweise verstärkend wirkt, hängt selbst wiederum vom physiologischen Kontext des möglicherweise Hungernden ab.

Es geht um Vorhersage-und-Beeinflussung. Durch die Hinzunahme der Beeinflussung als zweites, verändert sich der Charakter der Vorhersage. Beide bedingen sich gegenseitig. Um ein Ereignis zielorientiert beeinflussen zu können, muss ich die Bedingungen seines Auftretens, d.h. seinen Kontext kennen. Wenn ich den Kontext kenne, kann ich vorhersagen (prognostizieren, vorerkennen). Wenn ich andererseits ein Ereignis vorhersage, es also in seinen kontextuellen Bedingungen beschreibe, dann verändere ich es bereits. Das abhängige Verhalten wird durch die Beschreibung in seiner Funktion zugleich bestimmt und beeinflusst.

Ein gutes Beispiel dafür sind Achtsamkeitsübungen, die dazu dienen können, die kontextuelle Sensibilität des Verhaltens zu erhöhen. Einen Angstklienten nach den zeitlichen Antezedenzen und Konsequenzen seiner Angstsymptome zu fragen („Und was genau passiert, bevor Sie das Herzrasen wahrnehmen?“) kann zur Folge haben, dass er darauf aufmerksam wird, wie er während des Herzrasens vor sich hinschaut und den Atem anhält.

Weite, Genauigkeit und Tiefe (scope, precision und depth): Ziel ist eine Analyse, die vorhersagt und beeinflusst mit scope, precision und depth. Was heißt das? Scope bedeutet: Ein weites Spektrum von Ereignissen wird analysierbar (umfangreich, übergreifend). Precision meint: Eine begrenzte Zahl von Konstruktionen ist auf eine begrenzte Zahl von Ereignissen anwendbar, es gibt abgrenzbare Kriterien zur Analyse der Ereignisse, so dass sie nur für eine abgrenzbare Zahl zugänglich ist (spezifisch, qualifizierend). Depth schließlich beinhaltet: Analytische Konstruktionen auf psychologischem Niveau gehen strukturell konform mit solchen anderer Wissenschaften (strukturgleich, methodologisch äquivalent). Strukturell gleiche Begriffe in den Evolutionswissenschaften sind etwa umfängliche Erweiterungen durch Artenvariation (scope), Präzisierung funktional erfolgreicher Merkmale oder Verhaltensweisen durch Selektion (precision) und Beibehalten (Retention) dieser Veränderungen auf einer funktionalen Ebene (depth).

 Analytisch-abstraktes Herangehen: Das analytische Herangehen des FK ist abstrahierend. Aufgabe des analytisch-abstrakten Herangehens des FK ist es, Handlungen-im-Kontext zu beobachten, zu beschreiben und zu benennen, so dass kontextuelle Muster deutlich werden können, auf die die Kriterien einer funktionalen Zielanalyse anwendbar sind.

Metapher dieser Art des Herangehens ist der Ingenieur, der sich im Gegensatz zum wahrheitsorientierten Wissenschaftler am kontextuellen Unterschied, der einen Unterschied macht, orientiert, und der anders als der von trial and error geleitete Praktiker von einer wirksamkeitsgeleiteten Prognose ausgeht. Der Ingenieur lässt sich von einem – selbst einer funktionalen Analyse unterliegenden – Inventar von Prinzipien leiten, die fortlaufend in der kontextuellen Unterscheidung neu- und umgebildet sowie zugeordnet werden.

Das Ziel der Analyse ist Wirksamkeit. Diese ist erreicht, wenn Vorhersage-und-Beeinflussung von Ereignissen sich darauf beziehen, dass kontextuelle Merkmale identifiziert werden können, die Verhalten-im-Kontext vorhersagbar und beeinflussbar werden lassen. Eine genaue funktionale Analyse erlaubt die Beschreibung eines überschaubaren Umfangs von Ereignissen in der Zukunft. Sie soll zeigen, dass diese Ereignisse mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit und mit einer möglichst genau bestimmbaren Konsequenz auftreten.

Literatur

Biglan, A./Hayes S. (2016). Functional Contextualism and Contextual Behavioral Science, pp.37-61. In: Editors: Zettle, R., Hayes, S., Barnes-Holmes, D. & Biglan, A., The Wiley Handbook of Contextual Behavioral Science, UK: Wiley Blackwell

Dewey, John. The Reflex Arc Concept in Psychology (1896/1972). In: Dewey, John. The  Early Works, Vol. 5, 1895-1898, pp. 96-110. Editor: Boydston, Jo Ann, Carbondale and Edwardsville, USA: Southern Illinois University Press

Dewey, John. Conduct and Experience, 1930/1984. In: Dewey, John. The Later Works, 1929-1930. Vol.5, pp.218-237. Editor: Boydston, Jo Ann, Carbondale and Edwardsville, USA: Southern Illinois University Press

Dewey, John (2004). Erfahrung. Erkenntnis und Wert. Frankfurt/M: Suhrkamp

Gifford, E./Hayes S. (1999). Functional Contextualism: A Pragmatic Philosophy for Behavioral Science, pp. 287-328. In: Editors: O´Donohue, William & Kitchener, Richard. Handbook of Behaviorism. London, UK: Academic Press.

Hayes, S. (1993) Analytic goals and varieties of scientific contextualism, pp.11-27. In: Editors: Hayes, S., Hayes L., Reese, Hayne W. & Sarbin, T. Varieties of Scientific Contexualism. Reno, NV: Context Press