Wie entsteht Nähe zwischen Menschen? FAP außerhalb von Psychotherapie üben
Einmal im Monat kommen Menschen auf der ganzen Welt zusammen, um miteinander zu üben, wie Nähe zu anderen aufgebaut werden kann. Ein wesentliches Prinzip der FAP wird dabei angewendet: Awareness, Courage and Love, oder kurz ACL (Bewusstheit, Mut und Warmherzigkeit). Ich organisiere gemeinsam mit Matthias Funke diese Treffen in Berlin und möchte hier über meine Erfahrungen berichten.
Bevor ich zu meinen Erfahrungen komme, möchte ich erst erklären, was wir in diesen Treffen tun.
FAP (Functional Analytic Psychotherapy, entwickelt von Rob Kohlenberg und Mavis Tsai) ist eine „Schwestertherapie“ der ACT und gehört zu den Therapieformen, die mit der Kontextuellen Verhaltenswissenschaft (CBS- Contextual Behavior Science) entstanden sind und auf der philosophischen Grundlage des Funktionalen Kontextualismus (FC – Functional Contextualism) stehen. Alle drei Therapieformen finden sich deswegen auch in der ACBS und derem deutschsprachigen Verband DGKV vereint, wobei die ACT sicher die bekannteste ist.
FAP geht davon aus, dass sich alle psychischen Störungen in Beziehungen ausdrücken, unabhängig von der Frage, ob dies nun Ursache oder Wirkung ist. Da die therapeutische Beziehung zweifelsohne im Therapieraum präsent ist, kann hier am wirkungsvollsten – und immer im Rahmen einer kontextuellen Funktionsanalyse – neues Verhalten ausprobiert und verstärkt werden. Das erfordert von der Therapeut*in ein sehr hohes Maß an Authentizität und Bereitschaft und braucht immer wieder viel Übung.
In der FAP ist das Konzept von „Awareness, Courage and Love“ zentral. Bereits 1988 hatten Reis und Shaver (im später so nach ihnen benannten RS Modell) beschrieben, dass Nähe und Intimität zwischen zwei Menschen dann auftritt, wenn
- diese sich der eigenen Beweggründe, Bedürfnisse, Ziele und Ängste (oder wie wir in FAP eher sagen, der eigenen Verletzlichkeit – vulnerability) bewusst sind (Awareness im ACL Modell),
- einer von beiden sich mit seiner Verletzlichkeit dem anderen gegenüber öffnet, also ein Risiko eingeht (Courage im ACL Modell), und
- der andere Mensch damit wertschätzend umgeht (responsiveness im RS Modell, Love im Sinne von Empathie, Validierung und Fürsorge im ACL Modell, ich bevorzuge hier im deutschen Sprachgebrauch den Begriff Warmherzigkeit).
Außerdem wird es damit wahrscheinlich, dass auch die zweite Person anfängt, sich zu öffnen, ein Risiko eingeht und die erste Person darauf warmherzig reagiert. Menschen neigen zu reziprokem Verhalten, insbesondere wenn sie sich sicher miteinander fühlen; Nähe entsteht.
In FAP ist damit ein wesentlicher Aspekt der therapeutischen Beziehung benannt. Dort ist die Beziehung auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch Grundvoraussetzung. Allerdings ist sie nicht vollkommen symmetrisch, da die Therapeut*in der Klient*in zu neuen Lernerfahrungen verhelfen will, indem sie auf Grundlage einer Funktionsanalyse des Beziehungsverhaltens der Klient*in unterschiedliche Verhaltensweisen der Klient*in verstärkt.
Mavis Tsai hat im Januar 2015 damit begonnen, auf der Meetup Plattform Treffen zum Üben von ACL anzubieten. Meetup.com ist eine Internet Plattform, auf der man beliebige Aktivitäten anbieten kann, zu denen man Mitmacher sucht (also z.B. wer hat Lust, mit mir am Samstag, den … im … Park Volleyball zu spielen, ich suche noch 11 weitere Personen), die sich dann dafür anmelden können.
Einsamkeit und fehlende soziale Unterstützung gelten als einer der am stärksten wirkenden Morbiditätsfaktoren, die auch die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Mavis Tsai versucht, diese Treffen weltweit zu initiieren, damit immer mehr Menschen diese warmherzige, offene Art der Begegnung üben und lernen können. Inzwischen gibt es (Stand Mai 2017) 29 solcher Treffen mit mehr als 4000 Mitgliedern. Zwei davon finden im deutschsprachigen Raum statt (in Winterthur mit Herbert Assaloni und Maike Ijsselmuiden und hier in Berlin).
Sie hat in einem TED Talk, „Creating Extra-Ordinary Interactions“ (https://www.youtube.com/watch?v=B9kg1UdzDvw) sehr persönlich davon erzählt, wie sie mit ihrem
Lebensweg dazu gekommen ist, FAP zu entwickeln, und zeigt auch typische Begegnungen eines Meetups.
In Berlin bieten Mathias Funke und ich (Ralf Steinkopff) seit Januar 2017 solche Treffen monatlich an. Wir haben inzwischen über 180 Gruppenmitglieder, zu den Treffen sind bisher immer 13-18 Personen gekommen. Das besondere für uns ist der gemischte Kontext. Es nehmen u.a. meine Frau, persönliche Freund*innen, Patient*innen, Kolleg*innen und auch Unbekannte teil, die über die Meetup-Plattform von unseren Treffen erfahren.
Jedes Treffen steht unter einem neuen Motto. Bisherige Themen waren z.B. Wenn wir anderen ins Herz schauen könnten, Small Talk überspringen und Big Talk mit Fremden beginnen, Wie würde mein unerfülltes Leben aussehen. Mavis Tsai macht dazu Vorschläge, die wir Gruppenanleiter*innen aus aller Welt in Videokonferenzen miteinander ausprobieren. Wie auch in den Meetups vor Ort können wir in Untergruppen von 2 oder 3 Teilnehmer*innen gehen (online in sogenannten breakout rooms). Wir tauschen uns anschließend über unsere Erfahrungen damit aus. Uns ist es freigestellt, diese Themen zu variieren, den kulturellen Gegebenheiten anzupassen oder Neues auszuprobieren. Wir melden hinterher in einer geschlossenen Facebook-Gruppe den anderen Anleiter*innen unsere Erfahrungen vor Ort zurück.
Häufig beginnen wir die Meetups mit einem kurzen (Motivational) Video, das auf emotionale Weise das jeweilige Thema erschließt. Dann erzählen wir uns, wie es auf uns gewirkt hat. Wir Anleiter gehen immer voran, zum einen um eine Atmosphäre von Sicherheit und Mut zu kreieren, zum anderen um auch zu modellieren, wie wir persönlich, aus dem Herzen heraus reden möchten (und gerade nicht mit unserem kritischen, beurteilenden Verstand).
Es schließt sich zumeist eine geleitete Meditation an, die das jeweilige Thema vertieft. Mathias und ich wechseln uns darin ab. Es folgen Evozierende Fragen (Evocing Questions). Evozierende Fragen im therapeutischen Rahmen der FAP sind sehr persönliche, direkte Fragen, die das sogenannte Klinisch Relevante Verhalten (CRB: Clinical Relevant Behavior) in Beziehungen, hier in der therapeutischen Beziehung, hervorrufen sollen. Typische Fragen in der FAP können sein: Was denken Sie, dass ich gerade von Ihnen denke? Was ist schwer für Sie, mir zu sagen? Wie fühlen Sie sich in unserer Beziehung zueinander?
Im Meetup gibt es meist 5-10 solcher Evozierenden Fragen, die sich auf das jeweilige Thema beziehen. Jede Teilnehmer*in bekommt dann Zeit (ungefähr 10 Minuten), spontan Antworten und Reaktionen auf diese Fragen für sich aufzuschreiben.
Dann lassen wir Kleingruppen mit 2 oder 3 Teilnehmern bilden. Dort findet ein Austausch über die Erfahrung mit den Evozierenden Fragen statt, in einer für FAP typischen Struktur mit Zeitvorgaben. Eine Person erzählt sehr persönlich (z.B. 5 Minuten), dann bekommt sie ein sehr persönliches Feedback der anderen. Das Feedback soll nicht bewertend sein ( auch nicht positiv bewertend oder lobend), sondern aus dem Herzen heraus, natürlich und authentisch beschreibend, was die Zuhörer*in erlebt hat, was sie bewegt hat, welche Gefühle das in ihr ausgelöst hat etc. (z.B. für jeweils 2 Minuten). Und dann erzählt wiederum die erste Person, was das Feedback in ihr ausgelöst hat, wie es ihr damit ergangen ist (z.B. 1 Minute). Erst danach werden die Rollen getauscht und die nächste Person erzählt von ihren Erlebnissen mit den Evozierenden Fragen.
Das ist der Begegnungsraum, wo die meiste Nähe entsteht. Mathias und ich machen je nach Gruppengröße mit und begeben uns auch in die Kleingruppe. Einer von uns ist dann „Time Keeper“, also derjenige, der allen signalisiert, wann die jeweilige Zeit abgelaufen ist (das ist der Part, der unangenehm ist, die anderen aus ihrer Verletzlichkeit herausreißen fühlt sich nicht gut an). Es gibt noch eine kurze Zeit für die Kleingruppen, sich über diese Begegnung auszutauschen, und schließlich kommen wir wieder in der Großgruppe zusammen.
Dort kann dann auch noch jeder kurz und unkommentiert von sich und seinem Erleben berichten. Wünsche an ein nächstes Treffen und ein Ausfüllen von Feedbackbögen sowie die Bitte um eine Spende für die Raummiete runden das Meetup ab.
Was mich begeistert an diesen Treffen, ist auch das, was mich an ACT und FAP begeistert. Es ist vor allem die Begegnung von Mensch zu Mensch, auf Augenhöhe und gleichermaßen verletzlich. Hier findet sich viel von dem ursprünglichen Idealismus wieder, aus dem ACT, FAP und die ACBS entstanden sind, nämlich dazu beitragen, dass die Welt besser wird. (Genauer formuliert, der Funktionelle Kontextualismus hat das Ziel, menschliches Verhalten zugleich vorherzusagen-und-zu-beeinflussen, um Menschen zu helfen, ein reichhaltigeres und bedeutungsvolleres Leben zu leben).
Das Engagement von Mavis Tsai mit diesen Meetups, und auch das von Mathias und mir wie auch von den vielen anderen Organisator*innen, ist dabei nicht selbstlos. Wir üben auch, und wir brauchen diese Übung auch dringend (vielleicht spreche ich hier lieber nur von mir persönlich: also ich brauche diese Übung auch dringend). Die therapeutischen Prinzipien von FAP zu verstehen, ist vergleichsweise einfach. Was immer wieder Übung braucht, ist die Authentizität, das Einlassen, die Bereitschaft, die Verletzlichkeit, und auch die Offenherzigkeit, das Mitgefühl, die Direktheit. In FAP unterscheiden wir die CRB’s des Patienten (das Beziehungsverhalten der Therapeut*in gegenüber) von den T’s der Therapeut*in (das Beziehungsverhalten der Patient*in gegenüber, das genauso von Hin- und Wegbewegungen gekennzeichnet sein kann wie das der Patient*in) und von den O’s beider (das Verhalten outside, also außerhalb der therapeutischen Dyade). Und das meint eben auch das Verhalten in privaten Beziehungen, wo wir Therapeut*innen als Menschen wie Du und Ich ja auch oft genug vermeidend, beurteilend oder abwertend sind (ich zumindest). Die Meetups sind für mich eine intensive Möglichkeit zu üben, und es unterstützt mich sowohl in meiner Haltung als Psychotherapeut wie in meiner privaten Bereitschaft zur Offenheit.
Die Mischung der privaten, beruflichen und therapeutischen Kontexte ist bewusst gewählt, wir begegnen uns im Üben einfach als Menschen. Das ist eine besondere Herausforderung, und macht uns auch immer wieder Angst, da wir nicht auf gut eingeübte Rollenskripte als Therapeut, als Freund, Kollege oder Ehemann zurückgreifen können. Ich fühle mich dann ungeschützt, manchmal quasi nackt, und bin stärker als sonst auf das Wohlwollen der anderen angewiesen.
Und sich so verletzbar zu machen und Wohlwollen zu empfangen tut gut. Ich merke, wie ich im Umgang mit anderen, in welchem Kontext auch immer, offener, weicher, präsenter werde. Eine Metapher für mich ist, dass es sich wie eine emotionale Massage anfühlt, die auch schmerzen kann, aber Verhärtungen lockert und mich gelöster und geschmeidiger macht.
Ich brauche diese Übung in Bewusstheit, Mut und Warmherzigkeit immer wieder. Wer macht mit: https://www.meetup.com/de-DE/pro/livewithacl/ ?
Kanter J, Tsai M, Kohlenberg RJ (Eds.) The practice of Functional Analytic Psychotherapy. New York: Springer, 2010.
Kanter J et al. Awareness, Courage and Love in Functional Analytic Psychotherapy. Unpublished Manuscript 2015.
Kohlenberg RJ, Tsai M. Functional analytic psychotherapy: A guide for creating intense and curative therapeutic relationships. New York, NY: Plenum, 1991.
Reis HT, Shaver P. Intimacy as an Interpersonal Process. In: Duck SW (Ed.) Handbook of Personal Relationships: Chichester, England: Wiley & Sons 1988.
Tsai M, Kohlenberg RJ, Kanter J, Kohlenberg B, Follette W, Callaghan G. A guide to Functional Analytic Psychotherapy: Awareness, courage, love and behaviorism. New York: Springer, 2008.