Klinische RFT

Klinische RFT ist die therapeutische Anwendung der Bezugsrahmentheorie RFT.

Hintergrund und Einordnung

Klinische RFT wird in dem Lehrbuch von Matthieu Villatte, Jennifer Villatte und Steven C. Hayes 2020 (orig. 2016): “Sprache als psychotherapeutische Intervention”  erstklassig dargestellt. Das Lehrbuch wird in internationalen Diskussionen häufig als “MCC” abgekürzt, nach dem Originaltitel “Mastering the Clinical Conversation”.

Ein zweiter Ansatz, der RFT direkt in die therapeutische Anwendung bringen möchte, ist die Process-Based Behavioural Therapy (PBBTTM) von Dr. Yvonne Barnes-Holmes und Ciara McEnteggart. Dieser Ansatz beruht direkt auf der intensiven Grundlagenforschung von RFT in detaillierter Tiefe. Vielleicht lässt sich dieser Ansatz als bottom-up beschreiben, von der genauen Mikroanalyse zwischenmenschlichen sprachlichen Geschehens hin zur therapeutischen Anwendung, während Klinische RFT dagegen stärker als top-down Ansatz verstanden wird: von den allgemeinen, übergeordneten Zielen der Veränderung hin zu sprachlichen Anwendungen in der Psychotherapie.

Die nun folgenden Ausführungen beziehen sich auf Klinische RFT, wie sie im Lehrbuch von Vilatte, Vilatte und Hayes beschrieben wird.

Die übergeordneten Ziele von Klinischer RFT sind die Herstellung bzw. Erhöhung von Flexibler Kontextsensitivität und Funktionaler Kohärenz.

Kontextsensitivität beschreibt die Fähigkeit, die Bedingungen (Antezedenzen) wahrzunehmen und in Entscheidungen einzubeziehen, die ein Verhalten beeinflussen. Das steht im Gegensatz zum regelgeleiteten Verhalten (rule governed behavior), das vorab bestimmten Regeln folgt, ohne den Kontext zu beachten, in dem Verhaltensweisen entschieden werden. Beispielsweise ist die Regel: „Füge anderen keine Schmerzen zu“ eine sinnvolle Regel – in den meisten Kontexten, aber eben nicht in allen: Bei einer kontextinsensitiven Anwendung der Regel würden beispielsweise Ärzt*innen ihre therapeutischen Optionen unangemessen einschränken, keine Spritzen geben etc. und Psychotherapeut*innen ihre Patient*innen nicht konfrontieren oder schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen keinen Raum geben.

Zum Kontext zählen nicht nur situative Elemente, sondern auch (lebens-) geschichtliche, wie zum Beispiel Lernerfahrungen. Zudem können innere Verhaltensweisen wie Denken, Fühlen, Wahrnehmen als Kontext eine wesentliche Rolle spielen.

Flexible Kontextsensitivität beschreibt darüber hinaus die Fähigkeit, aus den vielen Kontextvariablen diejenigen verstärkt zu beachten, die für die Abschätzung der Sinnhaftigkeit eines möglichen Verhaltens besonders einflussreich sind.

Kohärenz wird hier verstanden als das symbolische (sprachliche) Bezugnehmen, dass ein Handeln begründet.

Funktionale Kohärenz steht hier im Gegensatz zu Essentieller Kohärenz und Sozialer Kohärenz. Unter Essentieller Kohärenz verstehen wir eine Begründung durch (scheinbare) Gesetzmäßigkeiten und vermeintlich objektive Wahrheiten („Wenn Du nicht zurückschlägst, bist Du ein Verlierer“, „Angst ist schlecht“). Soziale Kohärenz meint eine übernommene Begründung von anderen (Eltern, Peers, Vorbildern etc.). Bezogen auf die erwähnten Beispiele also: „Du darfst Dir nichts gefallen lassen“ und „Sei kein Angsthase“. Im Gegensatz dazu begründet Funktionale Kohärenz ein Handeln durch das (mögliche) Erreichen von Zielen und Werten: „Wozu ist es gut, Dich durchzusetzen, und was ist dafür hilfreich?“, „Wofür lohnt es sich, sich der Angst auszusetzen?“).

Es ist vor allem die Funktionale Kohärenz, die im therapeutischen Geschehen angestrebt wird. Therapeut*innen mit Schwerpunkt Klinische RFT sind also besonders darauf bedachtet, ihre Patient*innen darin zu unterstützen, selbst ein funktionales Verständnis für ihr Handeln zu entwickeln, und sind sehr sparsam darin, Hinweise durch Erklären (was Essentielle Kohärenz verstärkt) und Verschreibungen (was Soziale Kohärenz verstärkt) zu geben.

Die übergeordnete therapeutische Strategie in Klinischer RFT ist die Transformation symbolischer Funktionen durch Veränderungen des Kontexts.

Damit ist vor allem gemeint, dass keine Funktionen (bzw. funktionalen Zusammenhänge) entfernt werden, sondern dass wir nur

  • neue Funktionen hinzufügen (adding)
  • bestehende Funktionen auswählen (selecting) oder
  • bestehende Funktionen mehr Bedeutung verleihen (augmenting)

können.

Beispiel: Eine Klientin mit Hundephobie assoziiert Hund mit Angst, Wald mit Hund (dort könnte sie freilaufenden Hunden begegnen) und verzichtet auf Waldspaziergänge. Diese Bezugnahmen können von der Therapeutin nicht gelöscht werden. Sie kann aber neue Bezugnahmen hinzufügen (adding: Wald sorgt nachgewiesenermaßen für Gesundheit, stärkt unser Immunsystem, beruhigt unsere Nerven), erfragen, was die Patientin an Waldspaziergängen vermisst (selecting: Gedanken schweifen lassen, sich aktiver fühlen, befreiter atmen, mehr Energie gewinnen) und die Patientin an ihre übergeordneten Lebensziele (Werte) erinnern (augmenting: „Wofür ist es wichtig, aktiver zu sein und mehr Energie zu haben?“).

Auf unterschiedliche Weisen Bezug zu nehmen, führt zu verschiedenen Transformationen symbolischer Funktionen.

Koordinatives und unterscheidendes Bezugnehmen kann vor allem auch das Wahrnehmen und Beschreiben unterstützen, also gerade die Kontextsensitivität erhöhen.

Gegensätzliches Bezugnehmen kann besonders gut Sinn und Bedeutung ergründen und Motivation herausarbeiten. (Beispiel: „Wenn die Angst besonders stark ist, kann sie auf etwas hinweisen, was für Sie besonders wichtig ist. Was könnte das hier sein?“)

Kausales oder konditionales Bezugnehmen hilft insbesondere, Wirksamkeit von Verhalten einzuschätzen und erhöht damit auch die Funktionale Kohärenz. Es kann auch die Erfahrungen von Patient*innen normalisieren und validieren helfen.

Vergleichendes Bezugnehmen kann dem Abschätzen von Verhaltensalternativen dienen, dem genaueren Wahrnehmen und Beschreiben und dem Abschätzen und Auswerten von Konsequenzen.

Deiktisches Bezugnehmen (das perspektivische Bezugnehmen in Person, Zeit und Ort) kann einem vielschichtigeren Wahrnehmen, dem Distanzieren (Defusion), dem Normalisieren und Validieren, dem Mitgefühl und Einfühlungsvermögen sowie der Bildung eines flexiblen und stabilen Selbstkonzepts dienen.

Hierarchisches Bezugnehmen unterstützt das Einsortieren von Verhaltensweisen, das Etikettieren und Kategorisieren, ebenfalls die Bildung eines flexiblen und stabilen Selbstkonzepts, und die Schaffung von Sinn und Motivation. (Beispiel: „Der Gedanke ist zuerst ein Gedanke, den Sie wahrnehmen. Sie können entscheiden, wie Sie damit umgehen wollen. Was ist für Sie gerade wichtig zu tun?“

In der Psychotherapie sind deiktisches und hierarchisches Bezugnehmen von hervorgehobener Bedeutung, weil sie im besonderen Maße dazu beitragen, sowohl flexible Kontextsensitivität als auch funktionale Kohärenz zu erhöhen und ein flexibles Selbstkonzept (Selbst als Kontext) einzunehmen.

Im Beispiel oben (Hundephobie) ließen sich die bedeutsamen Bezugnahmen so analysieren: die Patientin setzt Hund und Angst kontextinsensitiv (verallgemeinert) in koordinativer Bezugnahme, Wald dazu in koordinativer und vergleichender Bezugnahme (freilaufende Hunde im Wald sind schlimmer als angeleinte Hunde in der Stadt). Die Therapeutin fügt koordinative / vergleichende Bezugnehmen hinzu (Wald und Gesundheit / Wald ist gesünder als Stadt), bildet ein gegensätzliches Bezugnehmen (worauf die Pat. verzichten muss, wenn sie nicht in den Wald geht). Sie nutzt konditionales Bezugnehmen („Wenn Sie in den Wald gehen, fühlen Sie sich also aktiver und haben mehr Energie“). Damit ist dann auch der Boden bereitet, um dann deiktisch und hierarchisch weiter zu fragen, zum Beispiel: „Was ist Ihnen besonders wichtig in Ihrem Leben“ (hierarchisches Bezugnehmen), „Wer entscheidet was Sie tun, also zum Beispiel in den Wald gehen, Ihre Angst, Ihr Wunsch nach Selbstbestimmtheit oder Sie selbst?“, „Wie werden Sie leben, wenn Sie sich nicht mehr von Ihrer Angst automatisch einschränken lassen?“ (deiktisches Bezugnehmen), „Was würde die Person, die Sie sein möchten, mit dem, was Ihnen wirklich wichtig ist, entscheiden?“ (deiktisch und hierarchisch).

In der therapeutischen Beziehung bildet die Therapeut*in den Kontext für die Patient*in.

Auf einer weiteren Betrachtungsebene ist die Therapeut*in Kontext für die Patient*in, ebenso wie andere Personen, die eigene Lerngeschichte, situative Elemente im Leben und weiteres zum Kontext werden kann. Die Therapeut*in fügt also immer nur weitere Aspekte symbolisch (sprachlich) hinzu (egal was sie sagt: selbst wenn sie widerspricht oder versucht zu widerlegen, fügt sie neue Funktionen hinzu, die evtl. durch gegensätzliches Bezugnehmen im Widerspruch stehen zu den bisherigen Funktionen, die bisherigen Funktionen werden aber dadurch nicht gelöscht). Damit kann sie die bisherigen Funktionen transformieren. Die Klient*in kann in der Folge neue Bezugnahmen bilden.

Da die Therapeut*in die funktionale Kohärenz erhöhen möchte, wird sie in der Regel eher aus einer Haltung von authentischem Interesse, Offenheit und Pragmatismus handeln, mehr fragen als erklären und gemeinsam mit der Patient*in erkunden, was hilfreich für die Werte und Ziele der Patient*in ist. Sie wird die Patient*in dazu ermuntern, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und deren Wirkung nachzuvollziehen, um ihr Leben zunehmend so gestalten zu können, wie es ihr Sinn gibt.

Literatur

Villatte M. (2015). Evaluating In-Session Therapist and Client Behaviors from a Contextual Behavioral Science Perspective. Chapter 15 (303-319) in: Zettle RD, Hayes SC, Barnes-Holmes D, Biglan A. The Wiley Handbook of Contextual Behavioral Science. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons.

Villatte M, Villatte J, Hayes SC 2020. Sprache als psychotherapeutische Intervention. Ein Lehrbuch für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer (orig. Mastering the Clinical Conversation. Language as Intervention. New York and London: The Guilford Press 2016)

www.languageasintervention.com