Einander in unserem Menschsein begegnen

Achtsamkeit im Knast
ein erster Erfahrungsbericht

Von Mitro Stephanie Hofmann, Ärztin und MBSR-Lehrerin, Wuppertal

Als ich das erste Mal durch die Gänge des Gefängnisses geführt wurde, scheinbar endlos viele Türen passierend, die nur für den Moment meines Hindurchtretens kurz mit diesem großen langen Schlüssel der „Freien“ geöffnet und geschlossen wurden, war es mir ein klein wenig mulmig zumute. In den Fluren  standen Männer in Gruppen beieinander, musterten mich mit ebenso neugierigen Blicken wie ich sie. Ich kam in „ihre Welt“, hatte einen Kurs für Achtsamkeitstraining im Gepäck und nicht die geringste Ahnung, wie das hier gehen könnte, wer und was mich erwartete und ob überhaupt jemand sich auf so etwas – vermutlich völlig Unbekanntes – einlassen würde. Zehn Männer hatten sich für den Info-Abend angemeldet – ich würde zum ersten Mal in meinem Leben echten „Ganoven“  (so bezeichnen sie sich im Scherz selber) begegnen. Würden sie mich belächeln, würde irgendjemand hier überhaupt etwas mit Meditation, Selbstreflexion und diesem ganzen „Weicheierkram“ anfangen können?

Was mir begegnete , verblüffte mich völlig: Zehn Männer, hoch konzentriert, fragend, offen, bereit sich auf etwas einzulassen, was ihnen gegebenenfalls etwas an die Hand geben könnte, mit dem sie ihre Situation hier und allgemein ihr Leben ein wenig leichter meistern könnten, sahen mir entgegen. Bei einer ersten kleinen Atemmeditation saßen sie aufrecht wie alte Zen-Veteranen ohne zu Zucken. Keiner machte Witze, als ich ihnen von den Möglichkeiten eines Weges der Achtsamkeit erzählte:

Alle zehn Männer haben sich angemeldet und wir begannen unseren gemeinsamen Weg. Wir begannen, uns spürend dem eigenen Körper zuzuwenden, Gedanken und Gefühle zu erforschen und Metta-Meditationen zu üben. Anfangs versuchte ich, das Programm eines MBSR-Kurses durchzuführen, angepasst auf unsere zeitliche Begrenztheit auf knapp zwei Stunden. Schnell zeigte es sich, dass es mehr Flexibilität brauchte, mehr Raum, um unmittelbarer auf das reagieren zu können, was gerade anstand. Neben der obligatorischen Zeit für Praxis – sei es Bodyscan, Atemmeditation, Meditation mit Gedankenbetrachtung oder Metta – flocht ich verschiedene Schwerpunkte aus dem Kursprogramm ein, löste mich aber immer wieder aus diesem Konzept, wenn andere Themen im Raum standen oder sinnvoll erschienen. Manchmal übten wir einfach nur immer wieder inmitten aufwallender Emotionen innezuhalten. Manchmal entstanden Diskussionen über hochphilosophische Themen, es war immer wieder anders und immer wieder spannend. Wir sprachen über Selbstmitgefühl, Scham, Innere Kinder. (un-)heilsames Handeln, über Muster, die unsere Wahrnehmung begrenzen. Einmal las ich einen Text zum achtfachen Pfad (mit einer anschließenden Diskussion zum Rechten Lebenserwerb) vor oder sprach über Karma, die Möglichkeit, sich aus „ungünstigen“ Konditionierungen zu befreien, über Inneres Wachstum. Jede Stunde ist ein Tasten zwischen Struktur und Flexibilität, ein Jonglieren zwischen Rahmen halten und Rahmen öffnen, ein Balanceakt zwischen Leiten und Teilen.

Für mich war und ist das Üben von Achtsamkeit und die Gespräche mit den Teilnehmern jede Woche neu tief berührend. Ich erlebe hier Männer, die den Mut aufbringen, sich auf völlig Unbekanntes einzulassen: auf Stille, auf Kontakt mit ihrer eigenen Verletzbarkeit, auf Diskussionen, in denen ihre Eigenwahrnehmung als Opfer in Frage gestellt wird, auf die Frage nach Werten, an denen man sein Leben ausrichten kann. Es ist ein wunderbares Geschenk für mich, denn es befreit mich von dem Glauben, dass Männer, die ich früher für hoffnungslos unerreichbar und – ja – für unsensibel  gehalten habe (wohlgemerkt: mein persönliches Vorurteil!) in ihrem Inneren ebenso Suchende sind. Dass wir uns in den Fragen des Menschseins begegnen können. Dass Freundschaft entstehen kann.

Nicht alle beteiligen sich lebhaft an unseren Gesprächen. Manche bleiben still, manche geben viel von sich preis, manche verlassen die Gruppe, weil sie sich irgendetwas anderes vorgestellt hatten. Und nur wenige haben eine Sprache für ihre Erfahrungen. Aber einige kommen Woche um Woche, bringen Neue mit, weil sie möchten, dass auch diese etwas für sich finden können.

Ich bat einige der Teilnehmer, mir für diesen Bericht ein paar Worte aufzuschreiben, was der Kurs ihnen bringt. Hier der Bericht eines Teilnehmers, dessen Entwicklung nicht nur mich beeindruckt hat.  Sicherlich steht er nicht stellvertretend für alle Teilnehmer, aber er zeigt, welches Potential in der Vermittlung von Achtsamkeit liegt.

Erfahrungen mit Achtsamkeit

„Um die positiven Veränderungen in meinem Leben mit Achtsamkeit zu beschreiben, sollte ich am besten auf meinen Gemütszustand vor dem Achtsamkeitstraining eingehen. Ich bin das erste Mal in Haft und habe anfangs sehr darunter gelitten, eingesperrt zu sein. Haft bedeutet Stress, den man nur nachempfinden kann, wenn man es selbst erlebt hat. Besonders die Untersuchungshaft ist hart, weil man da zwischen Hoffen und Bangen hin und her gerissen wird. 23 Stunden am Tag in einem winzigen Raum ohne mit jemandem zu sprechen, ohne Beschäftigung, alleine mit seinen Gedanken, Sorgen und Nöten – dazu noch Schweinefraß – , das zerrt an den Nerven und ich weiß nicht mehr, wie viele Nächte ich wach gelegen habe, aber es waren viele.

Besonders quälend war es, in den immer gleichen Gedankenschleifen fest zu hängen, die man einfach nicht durchbrechen kann. Emotional ist man auf einer Horrorachterbahn: Gefühle von Verzweiflung, Angst, Einsamkeit, Hoffnung, Hoffnungslosigkeit, Selbstmordgedanken, Traurigkeit und Wut wechseln sich in rasender Geschwindigkeit ab. Irgendwann sieht man nur noch grau und möchte sterben. Ich lag tage- bzw. wochenlang mit zugezogenen Vorhängen im Bett und habe entweder geschlafen oder in die Dunkelheit gestarrt, gequält von meinen Gedanken und nicht fähig aufzustehen oder mich zu rasieren.

Nachdem ich 4 Monate so in einem Zustand der Lethargie verbracht habe, hörte ich von einem Mithäftling, dass ein Kursus angeboten wird, der sich mit Buddhismus und Meditation beschäftigt. An beidem hatte ich schon vor meiner Gefangenschaft Interesse gehabt, also habe ich mich angemeldet, neugierig, was es damit auf sich hat.

Bei unserem Einführungsgespräch sagte die Kursleiterin, dass man auch im Gefängnis frei sein kann und ich dachte: “Die hat gut reden. Die fährt gleich nach Hause und ich bleibe eingesperrt.“ Damals wusste ich nicht, dass sie Recht hat. Wir haben in den darauf folgenden Wochen Sitzmeditation und Bodyscan geübt, womit ich anfangs nicht viel am Hut hatte. Mein Schlüsselerlebnis hatte ich, als wir uns mit Schemata (Anmerkung: Schemata beschreiben die Verbindung von Glaubenssätzen über sich, andere und das Leben, verbunden mit emotionalen und körperlichen Reaktionen und daraus entstandenen typischen Verhaltensmustern) befasst haben. Wir haben einen Fragebogen ausgefüllt und das Ergebnis hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich habe über mein Leben und besonders über meine Kindheit nachgedacht und irgendwann habe ich mein Inneres Kind gefunden, das einsam und verletzt in einem dunklen Raum lag. Das hat mich so berührt, dass ich seit Jahren oder sogar Jahrzehnten das erste Mal weinen musste. Durch dieses Erlebnis ist mir vieles klar geworden – warum ich Drogen genommen habe und wie es dazu gekommen ist, dass ich im Gefängnis gelandet bin.

Ich habe gelernt, meine Situation anzunehmen und empfinde meine Gefangenschaft nicht mehr als belastend. Auch wenn man alles verloren hat und für viele Jahre eingesperrt ist, kann man inneren Frieden finden. Wenn man fast nur alleine ist, ohne Einflüsse von außen, bekommen die Gedanken und die Wahrnehmung eine Klarheit und Schärfe, wie ich sie vorher nicht gekannt habe. Man erkennt, dass auch in der denkbar schlechtesten Situation viel Schönes und Positives steckt. Die Kunst ist es, „Es“ zu entdecken – und dabei hat mir das Achtsamkeitstraining geholfen bzw. mir diese Entdeckungsreise ermöglicht. Nur der momentane Zeitpunkt ist real, die Zukunft ist fiktiv. Wenn man das begriffen hat, lebt man sehr intensiv. Ich sage mir jeden Abend: „Heute war ein guter Tag, ich bin gesund, mir tut nichts weh und es gibt viele Menschen, denen geht es viel schlechter als mir. Also sei zufrieden, so wie es ist.“ dann lasse ich die schönen Momente des Tages Revue passieren, z.B. wie angenehm das Duschen war, wie das warme Wasser auf meine Haut geprasselt ist und dann lächle ich und freue mich auf den nächsten Tag. Ich denke nicht mehr an die Zukunft, denn ich habe für mindestens 3 Jahre keine selbstbestimmte Zukunft mehr und was danach kommt wird sich zeigen. Ich empfinde inneren Frieden und Leichtigkeit und vor allem Freiheit. Ich bin gespannt, wohin mich diese Entdeckungsreise noch führt und trete diese achtsam, freundlich, gelassen und mit einem Lächeln an.“

Aufruf

Alle, die eine vergleichbare Arbeit in deutschen Gefängnissen anbieten oder anbieten möchten, bitte ich Kontakt mit mir aufzunehmen. Ein Austausch von Erfahrungen, eine gemeinsame Reflexion, wie wir ein Angebot schaffen können, dass den Bedürfnissen der Menschen in diesem speziellen Kontext eines Gefängnisses am besten Unterstützung geben kann, wäre ein großer Schritt. Vielleicht ein Schritt hin zu dem Ziel, dass es eines Tages eine Selbstverständlichkeit ist, in Justizvollzugsanstalten  Wege zu Achtsamkeit, Selbstrespekt und Innerem Wachstum anzubieten.

 

Mitro Stephanie Hofmann
Am Todtenberg 6
42329 Wuppertal
mitro.hofmann@web.de